Bis Anfang des 20. Jahrhunderts war die als «Kretinismus» (abgeleitet von frz. Crétin) bezeichnete Krankheit in der Schweiz weit verbreitet. Die davon betroffenen Menschen litten aufgrund eines Jodmangels an einer Entwicklungsstörung, die zu Kleinwuchs und geistiger Behinderung führte. Viele der Betroffenen hatten zudem einen Kropf (vergrösserte Schilddrüse), der zum Teil groteske Dimensionen annahm. In Gebieten, in denen mehr als 10% der Bevölkerung einen Kropf hatten, sprach man von endemischem Kropf.

Das Krankheitsbild war insbesondere in Bergregionen verbreitet, da die Böden dort besonders arm an Jod sind und darum die lokalen Nahrungsmittel kaum Jod enthalten. Jodarme Böden kommen aber auch im Flachland vor.

Einzigartiges historisches Bildmaterial
Das IML setzt sich dafür ein, historisches Filmmaterial zu erhalten. Ein Beispiel: Bei Aufräumarbeiten im Medizinhistorischen Institut der Universität Bern kamen um 2005 Filmrollen zum Vorschein,  die Mitte der 1930er Jahre in Berner Anstalten zu Schulungszwecken aufgenommen wurden. In dem Film kommen sowohl Kretine als auch Patientinnen und Patienten mit Athyreose (fehlende Anlage der Schildrüse) vor. Der ehemalige Leiter des Medizinhistorischen Instituts, Prof. Boschung, übergab den 16mm Film dem IML. Ulrich Woermann von der Abteilung für Unterricht und Medien (AUM) erinnert sich: «Wir haben das Filmmaterial für das Institut für Medizingeschichte mit einem alten Projektor abgespielt und von der Leinwand auf Video aufgenommen.» Dieses Zeitdokument gibt Einblick in eine verschwundene Welt und erinnert an eine fast vergessen gegangene Krankheit.

Das Thema Kretinismus ist nach wie vor aktuell. So erhielt das IML eine Anfrage des französischen Fernsehens (France 2) für historisches Filmmaterial. Die Filmemacher wollten über den endemischen Kretinismus im Rahmen der Dokumentationsreihe „Abenteuer Medizin“ berichten. In Absprache mit dem heutigen Leiter des Instituts für Medizingeschichte, Prof. Steinke, konnte das IML einen Teil des Materials an France 2 freigeben. Die Dokumentation wurde in der Zwischenzeit realisiert.

Jodprophylaxe eingeführt
Die Schweiz war Pionierin bei der Einführung der Jodprophylaxe mit jodiertem Salz, die zum Verschwinden des Kretinismus geführt hat. Der Schweizer Arzt Otto Bayard konnte 1918 zeigen, das mit jodiertem Salz der Jodmangel ohne unerwünschte Nebeneffekte behoben werden konnte. Der Arzt Hans Eggenberger erreichte 1922 mit einer Volksinitiative, dass im Kanton Appenzell Ausserrhoden das Salz jodiert wurde. Diese Massnahme setzte sich nach anfänglichem Widerstand von Seiten der Medizin und der Schweizerischen Kropfkommission rasch in der Schweiz und in Österreich durch. In Deutschland hatte Jod hingegen den Ruf, giftig zu sein und kam deshalb weiterhin gar nicht zum Einsatz.

Aktuell ist die Jodversorgung durch moderne Essgewohnheiten wie Fast Food oder Fertiggerichte und die Verwendung von exotischen Salzen gefährdet. Eine ausreichende Jodversorgung ist jedoch für Risikogruppen (z. B. gebärfähige und stillende Frauen, Säuglinge und Kleinkinder) nach wie vor wichtig.

 

Bern als Zentrum für Schilddrüsenchirurgie
Dank Theodor Kocher und Fritz de Quervain war Bern lange Zeit das führende Zentrum für Schilddrüsenchirurgie in Europa. Für seine bahnbrechenden Entdeckungen erhielt Theodor Kocher 1909 den Nobelpreis. Mehr zum Kropf und den beiden Pionieren der Schilddrüsenchirurgie finden Sie im Lernprogramm «Bern und Schilddrüse», das Prof. Boschung zusammen mit der AUM anlässlich des 100-jährigen Jubiläums erstellt hat.